Wenn dein Nervensystem dir etwas sagen könnte

23.09.2024

In den letzten Wochen gab es wahrhaftig kein Gespräch im privaten und beruflichen Kontext, welches nicht früher oder später in irgendeiner Art und Weise bei dem Thema "Stress" ankam. Ich war baff erstaunt, wie viele Menschen mir berichteten, dass sie nachts um 3 Uhr aufwachen und nur schlecht wieder einschlafen können.

Wenn ich um diese Zeit aufwache - so wie letzte Nacht - dann beginne ich meist in meinem Kopf kreative Ideen zu entwickeln oder gar Blogposts zu schreiben. So kam mir der Gedanke, mit einem Beitrag ein grundlegendes Verständnis für unser Nervensystem zu vermitteln - und zwar aus einer etwas anderen Sichtweise.

Deshalb möchte ich hier einmal ganz pragmatisch die Verbindung zu unserem Nervensystem dar- und herstellen. Auch wenn ich durch TraumaArbeit auf die wichtige Rolle des menschlichen Nervensystems gestoßen bin, so glaube ich, ist dieses Wissen für jeden Menschen in dieser Zeit wichtig, denn …

… egal, wo ein Mensch sich in dieser Zeit positioniert - politisch, spirituell, sozial - egal, ob geimpft, nicht geimpft, vermeintlicher "Verschwörer", sozialkritischer Rebell oder "Systemtreu" oder Gottesgläubig und atheistisch … scheiß egal, denn was uns vereint ist eines:

Für uns ALLE waren die vergangenen vier Jahre stressig. Wir waren alle Ängsten ausgesetzt, sind es vielleicht teilweise noch, und durften und dürfen uns vielen Unwägbarkeiten stellen.

All das, bleibt nun mal nicht in den Klamotten stecken. Im Gegenteil, es ist eine Form von Stress, den unser Nervensystem wahrnimmt - auch wenn wir es (noch) nicht tun.

Dazu kommt, dass wir in einem Land leben, das zwei Weltkriege erlebt hat, dass wir Kinder und Kindeskinder der Nachkriegsgeneration sind und die genetischen Inhalte dieser Erfahrungen in unserer DNA tragen. Generationentrauma ist ein wissenschaftlich erwiesener Fakt, und wir sind alle davon betroffen.

Eine geballte Ladung also, deshalb möchte ich einmal ganz sanft und praktisch einsteigen.
Ein paar Basics zuerst.

Was ist eigentlich das Nervensystem?

Das Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk aus Nerven und Zellen, das dafür verantwortlich ist, Signale im Körper zu übertragen und zu verarbeiten. Es steuert und koordiniert nahezu alle Funktionen des Körpers – von bewussten Bewegungen bis hin zu unbewussten Prozessen wie Atmung, Herzschlag und Verdauung. Es besteht aus zwei Hauptteilen: dem zentralen Nervensystem (ZNS), das aus Gehirn und Rückenmark besteht, und dem peripheren Nervensystem (PNS), das die Verbindungen vom ZNS zu den restlichen Teilen des Körpers bildet.

Man kann sich das Nervensystem wie das Kommunikationsnetz des Körpers vorstellen. Es sendet elektrische Impulse über Nervenbahnen, die Informationen von den Sinnesorganen, Muskeln und inneren Organen zum Gehirn leiten und umgekehrt. Damit ermöglicht es uns, Reize aus der Umgebung wahrzunehmen, auf Gefahren zu reagieren und eine Vielzahl an körperlichen und geistigen Funktionen zu regulieren.Das Nervensystem ist also das zentrale Steuerorgan des Körpers und spielt eine entscheidende Rolle in unserem täglichen Leben, oft ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Es reguliert über die zuvor beschriebenen Mechanismen unsere Reaktionen auf externe Einflüsse, jegliche Form von Stress, unsere Fähigkeit zur Entspannung und beeinflusst sogar, wie wir Emotionen erleben.

In einer sich stetig wandelnden Welt, die von ständiger Hektik und äußeren Reizen geprägt ist, sendet uns das Nervensystem fortwährend Signale, um uns zu schützen, zu warnen oder zu beruhigen. Da wir nicht wirklich gelernt haben, diese Signale zu deuten bleiben sie oft unbeachtet, was nicht nur langfristige Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben kann, sondern auch unser Verständnis für die Stressoren, die auf uns wirken, nicht wirklich stärkt.

Hauptstressoren, die unser Nervensystem belasten sind:

Trauma: Sowohl körperliche als auch emotionale Traumata können das Nervensystem stark belasten. Unverarbeitete Traumata führen oft zu einer chronischen Aktivierung des sympathischen Nervensystems, was zu anhaltendem Stress und Dysregulation führt.

Toxine: Umweltgifte, Schwermetalle, Chemikalien und auch bestimmte Medikamente können das Nervensystem beeinträchtigen. Diese Substanzen können die Funktion von Nervenzellen stören und zu Entzündungen oder degenerativen Prozessen im Körper führen.

Dauerstress: Chronischer emotionaler und psychischer Stress, sei es durch Arbeit, Beziehungen oder finanzielle Sorgen, überlastet das Nervensystem und hält es in einem ständigen Zustand der Alarmbereitschaft. Dies führt oft zu Erschöpfung und Burnout.

Ernährung: Mangelhafte Ernährung, insbesondere ein Mangel an essenziellen Nährstoffen, Eiweiß, wie Vitaminen (z. B. B-Vitamine), Mineralstoffen und gesunden Fetten, kann die Funktionsweise des Nervensystems beeinträchtigen. Auch eine unausgewogene Ernährung mit zu viel Zucker und verarbeiteten Lebensmitteln kann die Nerven belasten.

Die Sprache unseres Nervensystems

Ein gestresstes Nervensystem reagiert im Grunde dauerhaft uns signalisiert uns, dass etwas aus der Balance geraten ist. Leider hat uns niemand beigebracht, wie unser Nervensystem mit uns spricht. In meinen 1:1 Beratungen gehe ich darauf gezielter ein, und in meinem TelegramKanal poste ich immer mal wieder etwas dazu, für den Zweck dieses Beitrags möchte ich dies einfach und pragmatisch halten.

Das Nervensystem operiert grundsätzlich in zwei Modi: Sicherheit oder Gefahr. Mit Hilfe der Amygdala, die wie ein Rauchmelder in unserem Gehirn agiert, bewertet es ständig unsere Umgebung und entscheidet, ob wir uns sicher fühlen oder ob wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden.

Im Sicherheitsmodus: Das parasympathische Nervensystem übernimmt und sorgt für Entspannung, Regeneration und Heilung. Unser Herzschlag ist ruhig, die Atmung tief, und wir fühlen uns sicher, geborgen und emotional ausgeglichen. In diesem Zustand können wir klar denken, kreative Lösungen finden und gesunde soziale Verbindungen aufbauen.

Im Gefahrenmodus: Das sympathische Nervensystem wird aktiviert. Dies löst die "Kampf- oder Flucht"-Reaktion aus. Herzschlag und Atemfrequenz beschleunigen sich, die Muskeln spannen sich an, und Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Hier geht es ums Überleben – unsere Gedanken und Körperfunktionen sind auf Reaktion und Schutz fokussiert. Hält der Gefahrmodus lange an und Kampf oder Flucht sind keine Option, fallen wir in eine Erstarrung, die sich "Freeze" nennt. Es ist durchaus möglich in diesem Zustand für Jahre oder gar Jahrzehnte auszuharren, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Das Nervensystem bewegt sich also ständig zwischen diesen beiden Zuständen - Sicherheit oder Gefahr - und kommuniziert über körperliche und emotionale Signale, in welchem Modus es sich gerade befindet.

Typische Signale eines dysregulierten Nervensystems

Chronische Anspannung: Muskelverspannungen, insbesondere im Nacken, Rücken oder Kiefer.
Erhöhte Herzfrequenz: Schneller Herzschlag oder Herzrasen auch in Ruhephasen.
Schlafstörungen: Einschlafprobleme, unruhiger Schlaf oder frühes Aufwachen.
Verdauungsprobleme: Reizdarm, Übelkeit oder Magenbeschwerden, da das Verdauungssystem stark von der Nervensystemregulation abhängt.
Erhöhte Erschöpfung: Anhaltende Müdigkeit trotz ausreichendem Schlaf, oft als "Burnout" empfunden.
Überwältigende Angst: Anhaltende Ängste oder Sorgen ohne klaren Grund, Panikattacken.
Reizbarkeit: Schnelle Wutausbrüche, Frustration oder Nervosität.
Emotionale Taubheit: Ein Gefühl der inneren Leere oder Distanz zu den eigenen Gefühlen und der Umwelt (Dissoziation), Depression.
Überreaktionen: Übertrieben starke Reaktionen auf alltägliche Stressoren oder Konflikte.
Konzentrationsprobleme: Schwierigkeiten, sich auf Aufgaben zu fokussieren, Gedankensprünge oder Vergesslichkeit.
Gedankenkreisen: Ständiges Grübeln oder das Gefühl, nicht "abschalten" zu können.

Entscheidungsprobleme: Schwierigkeiten, klare Entscheidungen zu treffen oder sich festzulegen.

Ich selbst befand mich Jahrzehnte lang im FreezeModus. In diesem Zustand ist es typisch, dass man nicht weiß, was richtig oder falsch für einen selbst ist. Man trifft keine guten Entscheidungen für sich, weil man das Gefühl für die eigene Wahrheit verloren hat, bzw. die Anbindung zur inneren Instanz über den rationalen Teil unseres Gehirns (PreFrontal Cortex) nicht leben kann, weil das Gehirn im limbischen Teil (emotional) verharrt. In einem anderen Beitrag, der HIER zu lesen ist, bin ich darauf bereits tiefer eingegangen.

Vielleicht klingt ja bis hierher einiges bekannt oder du kannst dich gut in einigem erkennen. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und dem Nervensystem eine Stimme geben. Was würde das Nervensystem sagen, wenn es sprechen könnte?

Botschaft eines dysregulierten Nervensystems

Lieber Mensch, seit deiner Kindheit arbeite ich non-stop, um dich zu schützen. Ich konnte die Gefahr wahrnehmen, der du ausgesetzt warst und so lernte ich stetig in Alarmbereitschaft zu sein, permanent dein Umfeld zu scannen, um jederzeit bereit zu sein, in den Kampf, die Flucht oder die Starr zu gehen - alles, um dich zu beschützen. Manchmal musste ich komplett dichtmachen, nicht weil ich wollte, sondern, weil ich nicht anders wusste mit einer Situation umzugehen. 

Manche schmerzvollen Momente konnte ich nicht verarbeiten, so packte ich sie weg. Meine Reaktionen wurden mit der Zeit zu Automatismen, die durch Töne, Bilder, Gerüche oder Wahrnehmungen getriggert wurden, die mich an die Vergangenheit erinnerten. Meine Überreaktionen sind nicht dein Fehler - ich konnte nicht anders, selbst wenn keine wirkliche Gefahr präsent war. 

So haben sich mit der Zeit eine Reihe ungelöster Emotionen in mir festgesetzt: Wut, Angst, Scham, Trauer, Traurigkeit. Sie manifestieren sich nun ab und zu in Form von Panik, Angst, emotionaler Taubheit - in diesen Momenten fühlst du dich getrennt von allem, und ganz schön getriggert. 

Ich weiß, dass du manchmal denkst, dass etwas mit dir nicht stimmt. Das ist nicht wahr, doch wenn ich im Shutdown bin, dann mag es sich so anfühlen für dich. Wenn ich aktiviert bin, dann fühlt es sich an, als wäre alles schrecklich und unlösbar. Das ist allerding alles nicht wahr - es sind lediglich meine Reaktionen auf vergangenes Trauma oder Stress, die das Gehirn zu verarbeiten sucht. 

Manchmal bin ich auch getriggert, sodass alles aus dir herauszubrechen scheint. Meist spontan und unkontrolliert. Dann kann ich einfach nicht mehr anders, zu lange habe ich die alten Emotionen unterdrückt. Es ist mein Weg, Ladung loszuwerden, damit es leichter wird für uns - dich und mich. 

Ich bin erschöpft vom jahrelangen harten Arbeiten, und doch gebe ich immer mein bestes. Das stete rauf und runter macht mich mürbe und müde, und doch gebe ich alles, um die in Sicherheit zu wiegen. 

Ich bin nicht kaputt, nur müde, denn ich war viel zu lange im Überlebensmodus. Ich möchte hier nicht stecken bleiben, ich möchte nicht, dass Du hier bleibst. Ich möchte lernen, wie es sich anfühlt, wenn es sicher ist, all das Alte loszulassen. Ich möchte lernen, zu vertrauen, zu entspannen und tief zu atmen, ohne Angst zu fühlen. 

Ich kann heilen. Du kannst mir helfen dabei. Gemeinsam sind wir stark, und mit deiner Geduld und Fürsorge können wir ein großartiges und erfolgreiches Team werden, dass das Leben mit Eleganz und in liebevoller Hingabe meistert.


Ein gut reguliertes Nervensystem

  • vermittelt Sicherheit, gibt das Gefühl, schwierige Situationen gut bewältigen zu können.
  • lässt andere Menschen an sich heran, weil es weiß, dass es jederzeit gesunde Grenzen setzen und einhalten kann.
  • hat die Geduld, auf die wahre Verbindung zu warten ohne dass es zwischenzeitlich in allen lauwarmen Beziehungen billige Kompromisse eingeht.
  • kann prima damit umgehen, zurückgewiesen oder in Frage gestellt oder gar kritisiert zu werden.
  • kann mit Enttäuschungen umgehen, ohne dass es sich selbst als Versager oder in der Schuld sieht.
  • kann anderen ihre Erfahrungen lassen, ohne helfen, heilen oder retten zu wollen.
  • kann um Hilfe oder Unterstützung bitten, ohne sich selbst klein oder als Opfer oder Bürde zu fühlen.
  • kann warten, bis sich tatsächliche Sicherheit einstellt, ohne vorschnell in Situationen zu schliddern, die das versprechen.
  • kann Liebe und Zuneigung annehmen, ohne sich schlecht darüber zu fühlen.
  • kann sich entspannen und sich eine Auszeit nehmen, ohne das rechtfertigen zu müssen.
  • kann alle Gefühle und Emotionen akzeptieren und leben, ohne Schuld oder Scham.
  • kann alles zurücklassen, was nicht die Kapazität hat, das geheilte Nervensystem zu lieben und stattdessen am dysregulierten Nervensystem geklebt hat - Menschen, Situationen, etc.
  • kann Menschen für das sehen was sie sind, nicht was sie potenziell sein könnten.
  • kann sich selbst vertrauen, auch wenn andere die eigene Entscheidung in Frage stellen.
  • kann mangelnden Respekt für das sehen, was er ist und muss nicht eine rosarote Brille darüber setzen, damit es romantischer ausschaut.


Quellen: Bessel v.d.Kock, Effie Kli, Liz Tenuto.