Von Trauma, Stress und dem Nervensystem - Klärung!

09.10.2024

In den vergangenen Jahren ist das Wort Trauma zu einem echten Buzzword geworden. Immer mehr Menschen erkennen, dass ihre Ängste, Erschöpfung oder körperlichen Beschwerden tiefere Ursachen haben könnten – doch gleichzeitig scheint jeder innere Kampf und Konflikt sofort als "Trauma" etikettiert zu werden.

Gerade in den letzten Wochen sah ich den Begriff Trauma öfters verallgemeinernd in einem Kontext benutzt, der gar nicht immer passend war. Klartext: Wenn ein Elfjähriger nachdem er eine schlechte Note erhalten hat in einem Gespräch mit einem Klassenkamerad sagt, "Alter, jetzt bin ich total traumatisiert", sollte das alle Alarmglocken zum klingeln bringen!

Da dies ca. 3/4 meines Wirkungsbereiches betrifft, möchte ich hier dieses Thema erläutern und versuchen, etwas Klarheit in das nebulöse Feld um Trauma, Stress und das Nervensystem zu bringen.

Vorab möchte ich sagen, dass wenn ich "nur" oder "lediglich" schreibe, dann tue ich dies der Unterscheidung wegen und nicht mit der Absicht, etwas zu mindern oder herunterzuspielen. Es gibt hier kein schwerer oder weniger schwer, oder besser oder schlechter. Und die Wahrheit liegt sowieso in jedem Menschen selbst!

Ich möchte - ganz untypisch für mich - nüchtern und sachlich an die Sache herangehen, und erst einmal Begriffe definieren bevor ich tiefer in den weiteren Kontext tauche.

Was ist Trauma?

Trauma ist eine Reaktion des Nervensystems auf eine emotional überwältigende Erfahrung, die wir nicht vollständig verarbeiten oder integrieren konnten. Es kann durch akute Erlebnisse (z. B. Unfälle, Gewalt, plötzlicher Verlust, Schock) oder durch langfristige, chronische Belastungen (z. B. Vernachlässigung, Missbrauch, emotionale Kälte) entstehen.

Trauma ist nicht das Ereignis selbst, sondern das, was im Körper und Nervensystem als Reaktion darauf passiert. Gerät das Nervensystem temporär oder langfristig aus der Balance, sprechen wir von einer Dysregulation. Bleibt das Nervensystem in einem dysfunktionalen Zustand – z. B. in dauerhafter Alarmbereitschaft (Fight/Flight) oder Erstarrung (Freeze) –, dann sprechen wir von einer Traumafolgereaktion.

Fazit: Trauma hat immer mit Emotionen zu tun, die wir nicht zu Ende gefühlt und "verarbeitet" haben, und deren Folgen uns im Nachhinein belasten und zum Teil durch ein dysreguliertes Nervensystem zum Ausdruck kommen können.

Was ist eine Dysregulation des Nervensystems?

Eine Dysregulation des Nervensystems ist ein gestörtes Gleichgewicht in unserem Nerven- und kompletten Körpersystem. Sie kann also, wie oben erwähnt, eine Traumafolgereaktion sein aber auch durch zu viele Reize oder Belastungen, chronischen Stress, Schlafmangel, Überforderung, toxische Belastungen oder eine unausgeglichene Lebensweise entstehen.

Zum Beispiel:

  • Ein Mensch, der dauerhaft unter Zeitdruck steht, kann in einen Zustand chronischer Anspannung geraten.
  • Jemand mit unausgeglichenem Blutzucker oder Nährstoffmangel kann Symptome von Unruhe oder Erschöpfung zeigen, die einer Traumaantwort ähneln.
  • Umweltgifte oder hormonelle Dysbalancen können das Nervensystem stressen.
Fazit: Eine Dysregulation des Nervensystems ist eine Reaktion auf etwas, das die Balance in uns bedroht - im innen oder aussen.

Auf den Punkt gebracht ist …

… Trauma eine tiefgehende Verletzung, die das Nervensystem nachhaltig verändert.
… Nervensystem-Dysregulation eine vorübergehende oder chronische Störung des Gleichgewichts, die viele Ursachen haben kann.

Also, führt …

… Trauma zu einer Dysregulation des Nervensystems , doch
nicht jede Dysregulation im Nervensystem ist automatisch auf Trauma zurückzuführen.

Wenn wir jede Form von Nervensystem-Dysregulation als "Trauma" bezeichnen, laufen wir Gefahr, das eigentliche Problem zu übersehen. Nicht jede Überforderung ist eine Traumareaktion – und nicht immer ist die Traumatherapie die richtige Lösung.

Das Komplexe dabei ist …

… dass sich in der Zeit, in der wir leben, gerade alles zu überlagern scheint. Nach fünf Jahren "Leben im Drama" gibt es wohl kaum jemanden, der nicht auf die ein oder andere Art Symptome der Dysregulation im Nervensystem erfährt. Die Zeit der Pandemie und ihre direkten und indirekten Auswirkungen waren und sind gravierende Stressfaktoren für die Menschen und haben entsprechend ihre Spuren in uns hinterlassen.

Es ist also kein Wunder, dass so viele von uns momentan unter den Folgen dieser schwierigen Zeit leiden und dies sich in einer Dysregulation des Nervensystems zeigt.

Und doch …

Zieht sich diese Dysregulation über einen längeren Zeitraum hin, bleibt also das Nervensystem (und das Gehirn) im Überlebensmodus stecken, dann kann es auch sein, dass alte Trauma nach oben gespült werden und dabei tiefe, alte Wunden aufbrechen. Dann kann es sein, dass plötzlich Emotionen in uns aktiv werden, die wir bisher nicht mal kannten, wie z.B. spezielle Ängste, Panik, etc. 

Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass Trauma auf der Ebene das Körpers nach oben getragen wird, und dies den Verstand vor eine echte Herausforderung stellen kann. Schließlich war man doch nur etwas erschöpft, und dachte, nach einem Wochenende Ruhe wird das schon wieder - und plötzlich stellen sich nachts Angstzustände ein!

Nochmals zum mitschreiben…

Momentan leiden unglaublich viele Menschen unter einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Form von Dysregulation des Nervensystems. Oftmals scheinen die Symptome oder Anzeichen so "normal", dass man diese gar nicht in ihrer wahren Ursache erkennt. Sind wir mal ehrlich: Wer hat nicht hier und da eine schlechte Nacht? oder mal Zuckungen in den Augen oder irgendwo sonst in der Muskulatur? Wer hat eine absolute sanfte, stete Verdauung und kann die Uhr nach seinen Toilettengängen stellen? Es gäbe unglaublich viel dazu zu sagen, doch ich belasse es bei der Kernaussage, dass wir alle - das meine ich auch so - Symptome eines dysregulierten Nervensystems aufweisen, das meist aber gar nicht wissen, weil eben jene Symptome schon zur gesellschaftlichen Norm gehören.

Man könnte auch sagen, "das ist alles Stress" und auch das stimmt, denn die Symptome, von denen ich spreche, lassen auch ohne medizinische Messwerte auf einen erhöhten Cortisolspiegel schließen, also einen Überschuss an Stresshormonen im System. All das ist in der TraumaArbeit mehr sehr bekannt.

Gegenüberstellung von Trauma und Dysregulation

Auch hier ist wieder wichtig, zu bedenken, dass Dysregulation durch Trauma entstehen kann und die Symptome bei chronischem Stress ähnlich sind.

So wird deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, anhand der Symptomatiken den wahren Auslöser zu erkennen. Die Differenzierung ist jedoch wichtig.

Warum ist diese Differenzierung überhaupt so wichtig?

Weil sie bestimmt, welchen Weg zur Heilung wir einschlagen, und in der direkten Zusammenarbeit bedeutet dies, dass auch die richtigen Hilfestellungen oder Empfehlungen gegeben werden können. Während Trauma meist eine tiefere Aufarbeitung erfordert, kann eine Dysregulation oft schon durch bewusste Selbstfürsorge und eine Rückkehr zu gesunden Routinen gelöst werden.
Manchmal braucht es körperliche Regulation (Schlaf, Ernährung, Bewegung), manchmal soziale Unterstützung, manchmal eine Veränderung im Lebensstil. Und ja, wenn Trauma im Spiel ist, dann braucht es unbedingt einen sicheren Raum, um es zu verarbeiten.

Der Weg zurück in die Balance beginnt beim Nervensystem

In einer Zeit, in der so viele Menschen dysreguliert sind, ist es wichtiger denn je, den Körper als Schlüssel zur Heilung zu verstehen. Denn egal, ob wir es mit unverarbeitetem Trauma oder "nur" mit einer Nervensystem-Dysregulation zu tun haben – unser erster Schritt ist immer derselbe:
Heilung beginnt mit Regulation – und alles andere folgt

Ein Körper, der in einem dauerhaften Alarmzustand feststeckt, hat keinen Zugang zu tieferer Verarbeitung, und ein überlastetes Nervensystem kann Trauma nicht sicher verarbeiten. Doch sobald wir lernen, unser Nervensystem zu beruhigen und unserem Körper wieder Sicherheit zu geben, dann beginnt sich der innere Nebel zu lichten.

Und genau dann passiert das, was Heilung wirklich bedeutet: Das, was gesehen werden will, darf auftauchen. Ohne Zwang, ohne Überforderung. Denn wenn unser Nervensystem stabiler wird, können wir alte Wunden mit neuer Stärke betrachten – und nach und nach das integrieren, was bisher zu überwältigend war.

Wenn wir uns um unser Nervensystem kümmern, stellt sich vieles andere fast von selbst ein. Emotionen können fließen, statt blockiert zu bleiben. Der Körper beginnt, sich von innen heraus zu regenerieren. Und das, was lange unzugänglich schien, darf endlich heilen – nicht durch Zwang, sondern weil die natürliche Ordnung sich wiederherstellt.

In einer Zeit, in der so viele Menschen dysreguliert sind, ist dies vielleicht die größte Einladung: Nicht in der Vergangenheit verloren zu gehen, sondern im gegenwärtigen Moment den ersten Schritt zu machen.

Zurück in die Sicherheit. Zurück in die Verbindung. Zurück in die eigene Kraft.

Kritisches Schlusswort: Wenn alles Trauma ist, ist nichts mehr Trauma

Die Tatsache, dass "Trauma" in den sozialen Medien und den Mainstream-Diskurs regelrecht explodiert darf kritisch betrachtet und mit großer Vorsicht genossen werden. Wenn plötzlich jeder unter "Trauma" leidet werden die tiefgreifenden psychologischen Wunden, die tatsächlich unser ganzes Wesen prägen können, mit Alltagsstress auf eine Stufe gestellt.

Die Medien und die Coaching-Industrie haben diesen Hype nur zu gerne aufgegriffen. Trauma zieht Klicks, verkauft Programme und gibt Menschen scheinbar einfache Erklärungen für ihre inneren Kämpfe. Doch wenn Trauma zum Allzweckwort wird, verlieren wir den Blick für das Wesentliche: die Differenzierung und damit auch die wahrhaftige Ursache.

Und hier schließt sich der komplexe Kreis aus meiner Sicht, denn

... gleichzeitig bedarf es der Aufmerksamkeit, dass so extrem viele Menschen gerade unter Symptomen von chronischem Stress leiden. Wenn nicht alles, was sich schwer anfühlt, Trauma ist, und nicht jeder, der unter Ängsten, Erschöpfung oder emotionaler Überforderung leidet, in seiner Vergangenheit ein schwerwiegendes Trauma erfahren hat, warum sind wir dann zuhauf so dysreguliert? 

Unser Nervensystem kann aus vielen Gründen aus der Balance geraten – chronischer Stress, Umweltbelastungen, Überforderung, Gifte im Körper oder entzündliche Zustände und nicht zuletzt toxische Beziehungen können die Ursache sein. 

Wer also überall nur Trauma sieht, übersieht die systemischen Ursachen für kollektive Dysregulation.

Wenn die Medien Trauma zu einem Buzzword machen, lenken sie dann nicht von der eigentlichen Frage ab: Warum sind wir als Gesellschaft so erschöpft, so überfordert, so dysreguliert? Hier besteht die Gefahr, dass statt echter Lösungen neue Labels verteilt werden, um möglicherweise unbequeme Tatsachen umzuschichten und Verantwortung abzuwenden, denn wenn es sich um individuelles Trauma handelt, kann das System ja nichts dafür, richtig?

Die Wahrheit ist: Wer lernt, sein Nervensystem zu regulieren, schafft die Grundlage für echte Heilung. Denn ein stabilisiertes System bringt oft genau das ans Licht, was wirklich verarbeitet werden muss ...


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