Von Stress, der unsichtbaren Last, die uns formt und regiert
Da ich mich seit Wochen intensiv mit dem menschlichen Nervensystem und seiner Regulation beschäftige, möchte ich mich in diesem Artikel dem Thema "Stress" widmen. Auf meiner Forschungsreise zum Thema hat mich - wie schon oft zuvor - besonders berührt (oder verstört), dass auch hier wieder ein möglicherweise problematischer Bereich per mainstreamKultur so sehr "normalisiert" wurde, dass er dadurch eine Abwertung erfährt und die Bedeutung und Signifikanz dessen was im betroffenen Menschen und der Gesellschaft geschieht dabei verloren geht.
Oder hast Du schon mal erlebt, dass jemand, der sagt: "Ich bin total gestresst" gefragt wird, was genau sie/er denn damit meint?
"Stress" ist einer jener weitläufigen Begriffe, der sich lohnt, etwas genauer zu betrachten.
Laut einer Studie veröffentlicht durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung versteht man unter Stress "…die starke Beanspruchung eines Organismus durch innere oder äußere Reize…". Besagte Studie verweist auf eine im Jahr 2021 von der Techniker Krankenkasse durchgeführte Umfrage nach der rund ein Viertel aller Deutschen unter Stress leiden. Das war vor drei Jahren und behaupte mal ganz frech, dass sich bis heute diese Zahl nicht verringert hat sondern eher ein Aufwärtstrend verzeichnet.
Ich sehe Stress so:
Stress ist eine physiologische und psychologische Reaktion des Systems auf äußere Einflüsse und Situationen, die als belastend, bedrohlich oder herausfordernd empfunden werden. Diese Reaktion kann sowohl körperliche als auch emotionale Veränderungen umfassen und wird durch die Freisetzung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin ausgelöst. Langanhaltender oder chronischer Stress kann negative Auswirkungen auf die mentale, emotionale, körperliche und seelische Gesundheit haben.
Bewusst oder unbewusst: Mögliche Stressoren in unserem Leben
Es gibt eine Vielzahl von Stressoren, die auf uns einwirken können und unsere körperliche und psychische Gesundheit beeinflussen können. Manche sind uns bewusster, andere weniger, oftmals weil sie schon so sehr zum Alltag gehören, dass wir sie als "normal" erachten. Dies ist nur eine begrenzte Auswahl, die sicherlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich zu sehen ist.
- Belastungen am Arbeitsplatz: Hohe Anforderungen am Arbeitsplatz, lange Arbeitszeiten, Termindruck und ein hohes Maß an Verantwortung können zu erheblichem Stress führen.
- Finanzielle Belastungen: Geldsorgen, Schulden und finanzielle Unsicherheit können einen erheblichen Stressfaktor darstellen und das Wohlbefinden beeinträchtigen.
- Beziehungskonflikte: Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Partner, Freunden oder Kollegen können zu Spannungen und Konflikten führen, die Stress verursachen.
- Gesundheitsprobleme: Krankheit, Verletzungen oder chronische Schmerzen können sowohl körperlichen als auch emotionalen Stress verursachen. Hierzu zählen auch Belastungen, die uns oft nicht so bewusst sind, wie z.B. verursacht durch Toxine im Körper, falsche Ernährung, elektromagnetische Strahlen von Handy, Computer, etc.
- Zeitdruck: Ein volles Terminkalender, ständige Erreichbarkeit durch Technologie und das Gefühl, nie genug Zeit zu haben, können zu einem Gefühl der Überforderung und des Stress führen.
- Informationsüberlastung: Die ständige Flut von Informationen durch Medien, soziale Medien und Technologie kann zu einer Überlastung des Geistes führen und Stress verursachen.
- Umweltbelastungen: Lärm, Luftverschmutzung, Verkehr und andere Umweltfaktoren können Stress auslösen und das allgemeine Wohlbefinden beeinträchtigen.
- Soziale Isolation: Das Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins kann zu einem erheblichen Stressfaktor werden und das emotionale Wohlbefinden negativ beeinflussen.
- Lebensveränderungen: Große Veränderungen im Leben, wie zum Beispiel Umzug, Scheidung, Verlust eines geliebten Menschen oder berufliche Veränderungen, können zu Stress und Anpassungsschwierigkeiten führen.
- Perfektionismus: Der Drang, perfekt zu sein und hohe Erwartungen an sich selbst zu haben, kann zu einem ständigen Gefühl des Versagens und der Unzufriedenheit führen.
Was geschieht im Körper, wenn wir unter Stress stehen?
Das Gehirn spielt eine zentrale Rolle bei der Stressreaktion, indem es die Wahrnehmung von Stressoren verarbeitet und die entsprechenden Einflüsse verwertet und die Antworten des Systems darauf koordiniert. Der Prozess, der im Gehirn während einer Stressreaktion stattfindet, kann grob in drei Hauptphasen unterteilt werden: die Wahrnehmung des Stressors, die Aktivierung des Stressreaktionssystems und die Regulation der Stressantwort.
Wahrnehmung des Stressors: Der Prozess beginnt mit der Wahrnehmung eines potenziellen Stressors durch die Sinnesorgane, wie z.B. den Augen oder den Ohren. Diese Informationen werden an den Thalamus weitergeleitet, der als eine Art "Schaltzentrale" des Gehirns fungiert und die Informationen an verschiedene Gehirnregionen weiterleitet.
Aktivierung des Stressreaktionssystems: Der Thalamus leitet die Informationen an den Hypothalamus weiter, eine kleine Region im Gehirn, die eine Schlüsselrolle bei der Regulation des autonomen Nervensystems und der Hormonproduktion spielt. Der Hypothalamus reagiert auf den wahrgenommenen Stressor, indem er das sympathische Nervensystem und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) aktiviert. Dies führt zu zwei Reaktionen im Körper:
a. Das sympathische Nervensystem aktiviert eine "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion, die den Körper auf eine unmittelbare Reaktion vorbereitet. Dies führt zu einer Freisetzung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin, die den Herzschlag beschleunigen, die Atmung vertiefen und die Muskelspannung erhöhen. Befindet sich der Mensch in einer Situation, die weder Kampf noch Flucht zulässt, kippt das System in einen Zustand der Erstarrung, den man aus traumtherapeutischer Sicht "Freeze" nennt.
b. Die HPA-Achse stimuliert die Nebennieren und veranlasst die Freisetzung von Cortisol. Cortisol ist ein Hormon, das eine Vielzahl von physiologischen Reaktionen im Körper reguliert, einschließlich des Stoffwechsels, des Immunsystems und der Energiebereitstellung.
Regulation der Stressantwort: Nachdem der Stressor wahrgenommen und die entsprechende Stressreaktion aktiviert wurde, ist es wichtig, dass das Gehirn die Stressantwort auch wieder reguliert, sobald der Stressor nicht mehr präsent ist. Dies wird durch verschiedene Mechanismen erreicht, einschließlich negativer Rückkopplungsschleifen, die die Aktivität des Hypothalamus und der Nebennieren regulieren, sowie durch die Aktivierung von Bereichen des Gehirns, die mit Entspannung und Stressbewältigung verbunden sind, wie z.B. der präfrontale Kortex und der Hippocampus.
Wenn dieser Regulierungsmechanismus gestört ist, zum Beispiel durch chronischen Stress, können langfristige negative Auswirkungen auf die Gehirnfunktion und die körperliche Gesundheit auftreten. Dies ist insbesondere der Fall im unter 2b beschriebenen Zustand von "Freeze", denn viele Menschen bleiben oft unmerkbar in der Erstarrung hängen, was zu einer anhaltenden Aktivierung des Stressreaktionssystems (Cortisol - HPA) und daraus resultierenden Überlastung des Körpers führen kann.
Kompensationsstrategien und Symptome: Die unsichtbare Maske des Stresses
Verdreht wie unsere Gesellschaft und Kultur nun mal ist, wird Leistung und Produktivität über alles stellt, und das Gefühl, gestresst zu sein, oft als Zeichen von Fleiß und Einsatzbereitschaft betrachtet. Wir streben nach Perfektion und Überlastung, um den Erwartungen unserer Arbeitgeber, Familien und sozialen Kreise gerecht zu werden, ohne uns darüber im Klaren zu sein, wie sehr uns diese Haltung belastet. Gestresst zu sein gehört irgendwie zum guten Ton!
Um mit all dem umzugehen, entwickeln wir Mechanismen der Kompensation, um den vermehrten Stress irgendwie verarbeiten zu können. Auch hier sind die Strategien, denen wir uns bedienen oftmals unbewusst und einige davon sind bereits so "genormt", dass man meinen könnte, das wäre ja alles normal.
Dauerhaft negativer Stress und erhöhtes Cortisol: Ein Tanz mit dem Teufel
Leider macht es der stetig fluktuierende CortisolSpiegel schwierig, aussagekräftige Messungen zu erlangen, doch dauerhaft erhöhtes Cortisol im Körper zeigt sich in Symptomen. Hier eine Liste von Beschwerden, sie sich einstellen können (nicht müssen).
- Blähungen
- Haarausfall
- Schlechter Schlaf mit unruhigem Wälzen
- Schlechtes Sehen
- Gehörverlust
- Herzrasen
- Vermehrt blaue Flecke
- Extremes Hitze oder Kältegefühl
- Ohrgeräusche
- Vermehrtes Aufstossen
- Sodbrennen
- Entzündungen der Nasennebenhöhlen und Nasenlaufen
- Haarverlust an Wimpern und Augenbrauen
- Haarwachstum am Kinn
- Plötzliche Unverträglichkeiten auf bestimmte Lebensmittel
- Heiße Knie unter direktem Stress
- Leichter Sonnenbrand als früher
- Juckreiz auf der Haut
- Trockene Lippen, die leicht einreißen
- Treckener Mund
- Fettige Haut
- Verzögerte Wundheilung
- Weniger Lust auf Sex
Diese Liste von möglichen Symptomen stammt von einer amerikanischen Soma-und TraumaTherapeutin. Sie kann als Hilfestellung dienen, wenn wir auf der Suche nach Ursachen für etwaige Probleme in unserem Leben, bzw. unserer Gesundheit sind. Allzu oft vergessen wir diesen doch so wichtigen Aspekt unseres Daseins und unterschätzen seine Auswirkung auf unser Wohlbefinden.
Unter Stress zu stehen führt dazu, dass wir uns Mechanismen zur Stressbewältigung aneignen, die unbewusst zum Ziel haben, Stress abzuleiten. Neben den eher offensichtlichen wie z.B. Reizbarkeit, Aggression, innere Unruhe, Alkoholkonsum, Nikotin, Koffein, etc. können auch einige unserer täglichen Verhaltensmuster Maßnahmen unseres Unterbewusstseins sein, unser Nervensystem zu regulieren.
- Ständig das Handy checken
- Scrollen in den Sozialen Medien
- Früh ins Bett wollen, und es einfach nicht schaffen
- Gelüste nach Zucker, Kohlenhydrate und Weißmehlprodukte
- Netflix und TV-Marathons
- Stetige Unterhaltung brauchen durch Radio und TV
- Telefonate ohne ersichtlichen Grund
- Extremer Drang nach Bewegung
Dauerhaft chronischer Stress kann Auswirkungen auf unser Gehirn haben, die oftmals gar nicht damit in Verbindung gebracht werden. So können die erhöhten CortisolWerte den gesamten Hormonhaushalt ins Wanken bringen und Veränderungen im Gehirn verursachen, insbesondere im Bereich des Belohnungssystems. Daraus kann eine gewisse Abhängigkeit entstehen, wenn das Gehirn beginnt Cortisol als eine Art "Belohnung" oder Linderung von Stresssymptomen zu betrachten.
Die Überaktivierung des Belohnungssystems durch chronischen Stress kann zu einer verstärkten Freisetzung von Dopamin führen, einem Neurotransmitter, der mit Vergnügen und Motivation in Verbindung gebracht wird. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem das Gehirn aufgrund der erhöhten Cortisolspiegel eine verstärkte Dopaminfreisetzung sucht und der Mensch sich entsprechend in seinen Kompensationsstrategien beginnt zu verfangen und daraus fast unmerklich eine Sucht entsteht. Die neuronalen Verbindungen im Gehirn machen keinen Unterschied zwischen Alkoholkonsum oder auf TikTok surfen solange nur der DopaminSchuss kommt.
Unser Nervensystems: Der Schlüssel zur Stressbewältigung
Wo setzen wir nun an, um diesem Kreislauf von Stress und Reaktion Herr zu werden? Es scheint wenig sinnvoll, alles hinzuwerfen und uns auf die Suche nach einer einsamen Hütte im Norden von Schweden oder Sibirien machen. Und die Privatinsel im Pazifik können sich die meisten von uns nicht leisten.
Erst einmal ist es sinnvoll, zu lernen, den eigenen Stresspegel zu erkennen, denn das bedeutet, in die Kommunikation mit dem Körper zu gehen und genau zu erfühlen und auch genauestens unsere Gedanken zu beobachten. Letztere sind ein gutes Barometer für unser inneres Wohlbefinden.
Dies bedeutet, die Falle des Automatismus zu verlassen und manchmal auch entsprechende Maßnahmen zu treffen, z.B. das Handy so einzustellen, dass scrollen auf Insta oder Facebook nur für eine begrenzte Zeit möglich ist. Selbstbeobachtung und Gewahrsein im Moment sind hier enorm hilfreich. Letztlich gilt es, aus einem dysregulierten Zustand des Nervensystems in einen regulierten zu gelangen.
Das Nervensystem spielt eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von Stress. Es besteht aus dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem, die im Gleichgewicht sein sollten, um uns in einen Zustand der Ruhe und Erholung zu versetzen. Wenn jedoch chronischer Stress vorherrscht, gerät dieses Gleichgewicht aus den Fugen, und unser Körper und Gehirn bleiben in einem Zustand der ständigen Alarmbereitschaft. Die Regulation des Nervensystems ist daher von entscheidender Bedeutung für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.
Zurück zu uns selbst: Die Kunst der Selbstfürsorge
Nach vier Jahren in dieser globalen Show haben wir einiges zu bewältigen, oder nicht? Es scheint mehr denn je an der Zeit, dass wir lernen, gut für uns selbst zu sorgen und diese Haltung auch ins Kollektiv transportieren, um dort veraltete kulturelle Grundmuster zu transformieren. Dabei kommen wir genau an der Sache nicht vorbei, vor der sich so viele gerne drücken: Das Fühlen.
Stressbewältigung beginnt mit der bewussten Anerkennung und Akzeptanz unserer inneren Spannungen und Ängste. Indem wir uns erlauben, unsere Gefühle zu spüren und anzuerkennen, können wir einen ersten Schritt in Richtung Heilung und Selbstfürsorge machen. Letztere in Verbindung mit dem Thema der Regulierung des Nervensystems werde ich in einem der kommenden Blogposts besprechen.
Diesen möchte ich mit einer von Herzen kommenden Botschaft schliessen:
Ich fühle, es ist an der Zeit, den unsichtbaren Stress zu entlarven und uns aktiv um unsere eigene mentale, emotionale und körperliche Gesundheit zu kümmern. Als Individuen aber auch als Kollektiv haben wir verlernt, uns uns selbst auf liebevolle Weise zuzuwenden und gut für uns zu sorgen. Als Kinder der Nachkriegsgeneration in einem Land, das von ausgeprägter Arbeits- und Leistungsorientierung lebt, wurde uns nie beigebracht, was es heisst, gut mit uns selbst zu sein. Auch dieses schwere gesellschaftliche Erbe spielt eine Rolle in unserem Stress. Wir dürfen lernen, diese Ursachen zu entlarven und zu heilen.
Wenn Du - ja Du - dich in diesem Post wiederfindest, dann bitte ich dich um eines: Falle beim Lesen nicht in eine Haltung von Härte, Zweifel oder Abwertung. Das können wir alle gut, doch das ist alles alt und überholt, und es darf jetzt gehen. Deutschland und wir Deutsche haben genug gelitten, genügend Härte erlebt - von Außen und von Innen - und wir waren lange genug die "Arbeiternation", die nichts erschüttert und die immer wieder aufsteht.
Es ist Zeit für Herz, für Güte, für Wohlwollen und für die mitfühlende Liebe.
Zeit, dich dir selbst zuzuwenden. Mitfühlend anzuerkennen, dass Du nicht anders konntest, als diesen Mustern nachzugeben.
Wie wäre es, wenn Du dich jetzt aus einem warmen Wohlwollen heraus für dich selbst entscheidest, dir selbst versprichst, von nun an sehr, sehr gut für dich zu sorgen: Weil Du ein Leben voller innerer Ruhe, Gelassenheit, vollkommener Gesundheit und Zufriedenheit verdienst!
Quellen: Liz, theWorkoutWitch, Caroline Strawson, Dr. Eric Berg, Dr. Barbara O'Neill, Mark Wolynn.