Frozen: Vom Leben in der Starre in der post-Corona Zeit

10.06.2024

Eigentlich, so dachte ich, bin ich ja wach. Ich unterscheide zwischen zwei Formen von Erwachen: Dem spirituellen Erwachen und dem Erwachen aus der Matrix. Wer solche Events in seinem Leben erfahren hat, erinnert sich für immer daran. So geht es mir auch, und nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich noch ein drittes Erwachen dazu kommen würde.

Doch meine Seele hatte offensichtlich andere Pläne für mich.

Der Prozess des Erwachens, ob aus der Matrix oder der Ignoranz dem Göttlichen gegenüber, geht immer mit massiven Veränderungen einher. Nach dem Erwachen ist das Leben nicht mehr das gleiche. Alles sieht anders aus … Dinge, Menschen, Farben, einfach alles. Die Sichtweise auf alles verändert sich und somit die eigene Beziehung zum Leben, aber auch zum eigenen selbst. Auch die eigene Persönlichkeitsstruktur transformiert sich entsprechend, was sich zwangsläufig auf viele verschiedenen Bereiche des Seins auswirkt.

So erlebte ich auch mein drittes Erwachen - das Erwachen aus der Starre. Es ist ein Erwachen aus einem Zustand der dauerhaft chronischen Erstarrung der eine Art Enthüllung von Lebensthemen mit sich bringt mit denen ich leider nicht alleine stehe. Man könnte sie schon fast als ein kollektives Problem bezeichnen, doch mehr dazu später. Erst einmal möchte ich den Begriff der "Starre" in diesem Kontext klären.

Kampf, Flucht, Erstarrung (Fight, Flight, Freeze)

Die "Starre" ist eine der drei Hauptreaktionen auf traumatische oder bedrohliche Situationen, neben "Kampf" (Fight) und "Flucht" (Flight). Sieht sich der Mensch einer überwältigenden Bedrohung ausgesetzt ist und kann weder kämpfen noch fliehen, tritt oft die "Freeze"-Reaktion ein. In diesem Zustand erstarrt der Körper, die Bewegungsfähigkeit wird eingeschränkt, und das Nervensystem schaltet in einen Zustand extremer Alarmbereitschaft und Immobilität um.

Diese Reaktion dient als eine Art letzter Verteidigungsmechanismus, bei dem der Organismus versucht, sich durch Unbeweglichkeit vor der Bedrohung zu schützen oder sich tot zu stellen, in der Hoffnung, dass die Gefahr vorübergeht.

Während dies in akuten Bedrohungssituationen hilfreich sein kann, kann eine anhaltende Starre im Zusammenhang mit unverarbeitetem Trauma langfristige psychische und physische Auswirkungen haben.

Besonders schwerwiegend werden diese Auswirkungen in zwei Fällen: 1. Wenn ein Mensch diese Erfahrungen der Traumatisierung/Erstarrung in der Kindheit im Alter von 0 bis 7 Jahren macht, was dazu führen kann, dass sich im Erwachsenenalter Symptome von C-PTSD (komplexer post-traumatischer Stress) einstellen oder 2. Wenn sie aufgrund von dauerhaft traumatisierenden Situationen im Erwachsenenalter erfahren werden.

In beiden Fällen ist das Risiko in einen Zustand, von "Functional Freeze" abzugleiten groß. Dies bedeutet, dass sich die Starre dauerhaft im System etabliert und der Mensch in der Erstarrung stecken bleibt. Dies geschieht meist ohne, dass er sich dessen bewusst ist.

Functional Freeze ist ein Überlebensmechanismus

Functional Freeze ist eine adaptive Reaktion des Nervensystems auf Stress oder Trauma, wobei Lebenssituationen oder Events, die dies hervorrufen meist mit Schockerlebnissen, wie z.B. Verlusten jeglicher Art und Missbrauch in verschiedenen Formen zu tun haben. Auch eine sogenannte Re-Traumatisierung kann einen erneuten FreezeZustand hervorrufen.

Beispiel: Werde ich als Kind von einem Elternhaus stetig angeschrien und regiere darauf mit Erstarrung, und treffe als Erwachsene auf einen Chef, der mich aggressiv anschreit, kann dies dazu führen, dass ich in einen Zustand der Starre gerate. Und wenn ich die Zusammenhänge zwischen meiner Kindheitserfahrung und der jetzigen Situation nicht erkenne, weiss ich nicht, wie mir geschieht - und, vor allem, weiss ich mir nicht zu helfen.

Dies ist nur ein Beispiel zur Verdeutlichung der Abläufe. Wichtig ist, zu erkennen, dass in Momenten, wo Mensch getriggert ist oder gar re-traumatisiert wird, das Nervensystem auf die mögliche Bedrohung reagiert, und der Körper den dadurch initiierten Zustand austrägt. Das heisst, im Gehirn springt die Amygdala in den AlarmModus, der Hyppocampus zieht sich zusammen, und das limbische Gehirn geht in Hab-Acht-Stellung. Im Körper zieht sich der VagusNerv zusammen und meist geht auch der PsoasMuskel in eine Art Lähmung.

Im Extremfall kommt es zu einem Shutdown des dorsalenVagusNervs.

Ich durfte im Juli 2021 einen solchen "geniessen" und muss sagen, ich würde eine solche Erfahrung niemandem wünschen. Das Gefühl in meinem Körper war schrecklich und fühlte sich wie ein Sterben auf zellulärer Ebene an. Dieses Event hat alles verändert, und seither bin ich nicht mehr die gleiche.

Es muss nicht zum dorsalen Shutdown kommen, auch wenn wir etwas erleben, was in uns ein Trauma verursacht oder ein bereits bestehendes Trauma wieder aktiviert, besteht die Gefahr, dass das System in der Erstarrung stecken bleibt. Die Anzeichen dafür können subtil beginnen und sich auf Dauer als körperliche Symptome etablieren, die wir ganz anders begründen, weil wir den eigentlichen Ursprung schon lange vergessen haben.

Was bedeutet es, in der Starre zu sein?

Den Zustand von Functional Freeze zu erkennen ist manchmal gar nicht so einfach, besonders deshalb nicht, weil viele seiner Ausdrucksformen mittlerweile in der Gesellschaft als "normal" angesehen werden. Dabei sind diese Verhaltensweisen, die wir uns aneignen, um trotz Starre und Disregulierung trotzdem noch funktionieren zu können.

Nehmen wir z.B. Jugendliche, die nur noch am Handy hängen und oberflächlich betrachtet dadurch nicht am Leben teilnehmen. Wir verurteilen so leicht, dabei ist das Scrollen am Handy eine der Kompensationsmechanismen, die der Mensch etabliert, weil er sich in der Starre befindet und ihn die Aktivitäten um ihn herum überfordern und nervös machen.

In Functional Freeze schaffen wir es noch ganz gut im Alltag und bei der Arbeit zu funktionieren, haben ausserhalb dessen aber wenig Energie für etwas anderes. Wir bewältigen tagsüber unseren Job noch ganz gut, klappen abends aber zusammen und haben nicht genügend Kraft uns selbst etwas Gutes zu tun.

Typische Anzeichen der funktionalen Starre (Functional Freeze)

1 - Körperliche Symptome

  • Steifheit im Körper, besonders in Gelenken
  • erhöhte Muskelspannung, die oft zu Schmerzen führt
  • Müdigkeit und Erschöpfung, die übermässig Schlaf erfordert
  • flacher, eingeschränkter Atem, Gefühl von Enge in der Brust

Dr. Peter Levine macht an diesem Zustand Probleme mit Lunge, Herz und Darm fest, die sich oft in unregelmäßiger Herztätigkeit, Atem- und Verdauungs-problemen sowie Schmerzen im unteren Rücken ausdrücken.

2 - Emotionale Symptome

  • Gefühl von emotionaler Taubheit und Abflachen von Empfindungen
  • Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht
  • Ängste oder auch plötzliche Panikattacken
  • Überforderung der Sinne, was zu Wut, Frust und Aggression führen kann

3 - Kognitive Symptome

  • Konzentrationsschwierigkeiten, ADHS-ähnliche Symptome
  • Gedächtnisprobleme
  • Verwirrung und Desorientierung

4 - Verhaltenssymptome

  • Vermeidungsverhalten
  • soziale Isolierung, Rückzug
  • Verlangsamung
  • Häufiges Ändern von Plänen und kurzfristiges Absagen von Vorhaben
  • Verringerte Selbstfürsorge
  • Nach dem Duschen nicht Anziehen wollen oder im Auto sitzen bleiben wollen
  • Irrationales online Shoppen - Warenkorb voll packen, dann nicht kaufen
  • Bei allem nur das absolute Minimum tun
  • Mit anderen Menschen nicht wirklich präsent sein
  • Dissoziieren - komplettes inneres Abschalten von der Aussenwelt

In diesem Zustand hat ein Mensch kaum Energie, an Aktivitäten teilzunehmen, die ihm einst Freude bereitet haben, soziale Kontakte oder Events werden als überwältigend empfunden und grundlegende Tätigkeiten, wie Putzen, Einkaufen, Auto waschen, etc. werden nur mit äusserster Kraftanstrengung durchgeführt (wenn überhaupt). Es fehlt die Freude, der Antrieb, die Motivation und die Kraft für fast alles.

So viel zum Hintergrundwissen um Functional Freeze. Seitdem ich selbst aus diesem Zustand "erwacht" bin erkenne ich ihn vermehrt bei Menschen in meinem Umfeld, und als ich begann nachzuforschen, wann er bei einzelnen Personen eingesetzt hat, formte sich in mir ein recht klares Bild dazu, welches ich hier als Hypothese präsentieren möchte.

Ich denke, dass sich seit Beginn der C-Krise viele Menschen in einer mehr oder minder ausgeprägten Form von Functional Freeze befinden… und die meisten wissen es wahrscheinlich nicht.

Functional Freeze als Auswirkung der Corona Krise?

Die Auswirkungen der vergangenen vier Jahre haben viele an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt. Isolation, Unsicherheit und anhaltende Angst haben einerseits zu einem kollektiven Trauma beigetragen, gleichzeitig haben sie möglicherweise individuelles oder persönliches Trauma re-aktiviert.

Während die offensichtlichen physischen und wirtschaftlichen Folgen der Covid Show klar erkennbar sind, bleiben vielleicht die subtileren, psychologischen Folgen (noch) unbemerkt.

Da Functional Freeze als TraumaAntwort oft weniger sichtbar ist als offene Aggression, Panik oder Depression, wird sie häufig übersehen oder missverstanden. Dennoch sind die Symptome allgegenwärtig, und vor allem haben sie langfristig schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen, und zwar auf allen Ebenen des Seins.

Schlussendlich ist dies meine persönliche Ansicht, doch nach mehreren Monaten Forschung im Innen und Aussen, hege ich die Vermutung, dass Functional Freeze eine stille, aber gravierende Folge der Covid Show ist, die dringend mehr Aufmerksamkeit und Verständnis erfordert.

Und dabei haben wir noch nicht das Risiko von CPTSD (komplexem post-traumatischem Stress) als Folge der Krise beleuchtet, der immerhin ansatzweise in Fachkreisen diskutiert wird. Laut WHO (!) gab es bereits 2022 einen Anstieg von PTSD-Symptomen um 25% in der Weltbevölkerung, was im Grunde heisst: Stress galore!

Dieser Stress muss irgendwohin im Menschen. Die letzten Jahre haben die Resilienz jedes einzelnen und des Kollektivs massiv auf die Probe gestellt. Die wenigsten von uns haben diesen Stress unbeeindruckt einfach mal so wieder ausgeatmet. 

Ich stelle die Vermutung in den Raum, dass viel mehr Menschen folglich von einem dysregulierten Nervensystem, Zuständen wie Functional Freeze und CPTSD betroffen sind als wir zu denken wagen—und dies ohne, dass den Betroffenen dies bewusst ist. Darüber darf sinniert und diskutiert werden…


Quellen:  Dr. Peter Levine, Liz Tanuto, Dr. Ramani.